Wissenschaftliche Erkenntnisse zu ADHS bei Erwachsenen

Unter dem Schlagwort "bio-psycho-soziale Medizin" wird heute zu Recht in der Medizin eine gesamtheitliche Betrachtungsweise in den Vordergrund gestellt. Gerade bei der ADHS besteht jedoch weiterhin das Problem, dass die neurobiologisch bedingten Ursachen immer noch häufig zu wenig bekannt sind. Um verstehen zu können, welche Funktionen bei der ADHS anders ablaufen, ist es notwendig, einige Grundlagen über den Aufbau und die Funktion unseres Gehirns zu kennen:

Unser Gehirn ist das komplizierteste aufgebaute Organ, welches der Mensch aufweist und unser "Menschensein" überhaupt erst ermöglicht. All unsere menschlichen Fähigkeiten und Leistungen, wahrscheinlich auch die "Seele", lassen sich heute mehrheitlich aufgrund von biochemischen Stoffwechselvorgängen erklären. Man spricht von der "Chemie der Seele". Unser Denken, Empfinden, Erinnern, Fühlen, Lernen - das Bewusste und auch Unbewusste - sind in unserem Gehirn nach physiologischen Gesetzmässigkeiten programmiert, codiert und biochemisch abgespeichert.

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Anatomisch gesehen ist das Gehirn ein komplexes Netzwerk aus schätzungsweise 100 Milliarden Hirnzellen, die wiederum unter sich ca. 1000-mal durch spezielle Übertragungsstellen (den sog. Synapsen) verbunden sind.

Obwohl das Gehirn nur ca. 3 Pfund wiegt, benötigt es praktisch konstant 20 Prozent unserer Körperenergie (in Form von Sauerstoff und Blutzucker), was bedeutet, dass es auf eine ununterbrochene Blutzufuhr angewiesen ist.

Dieses unvorstellbar riesige Netzwerk von Gehirnzellen ist zum Teil anatomisch, zum Teil funktionell in verschiedene Areale aufgeteilt, das heisst in einzelnen Abschnitten werden spezifische Steuerungsaufgaben übernommen (z. B. Sehzentrum, Sprachzentrum etc.). Der dazu notwendige Informationsaustausch erfolgt in komplizierten Regelkreisen, wobei die einzelnen Informationen von einer Zelle zur anderen im Bereich von Schaltstellen - den sog. Synapsen - durch Überträgerstoffe (den sog. Neurotransmittern) vermittelt werden. Dieses komplexe System wird noch differenzierter und leistungsfähiger, indem nicht nur ein, sondern gleich mehrere Dutzend verschiedener Neurotransmittersysteme zur Verfügung stehen. Noch sind deren Funktionen lange nicht alle erforscht. Es kann aber vereinfacht gesagt werden, dass - unter Ausschluss aller äusserer Faktoren, die natürlich ebenfallls eine wichtige Rolle spielen - letztendlich all unser Denken und Handeln primär von intakt funktionierenden Neurotransmittersystemen abhängt.

Die Menge der zur Verfügung stehenden Neurotransmitter beeinflusst die Aktivität der Hirnleistung. Diese wiederum lässt sich entsprechend indirekt durch die Hirndurchblutung messen. In anderen Worten: Eine verminderte Hirnaktivität, z. B. wegen Neurotransmittermangel, wird sich durch einen geringeren Energieverbrauch äussern, sprich die Durchblutung dieser Areale ist schwächer als bei normaler Hirnaktivität. Durch aufwändige, bildgebende Verfahren (z. B. PET ,SPECT und vor allem fMRI) kann heute die Aktivität bestimmter Hirnareale sichtbar gemacht werden. Wir erhalten eigentliche «Bilder des Geistes»: So zeigen diese Untersuchungen bei vielen psychischen Störungen - aber auch bei Teilleistungsstörungen (!) - weniger durchblutete Hirnareale als Zeichen einer lokal verminderten oder anders ablaufenden Hirnaktivität.

Die bei der ADHS beeinträchtigten Fähigkeiten bezüglich komplexer Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen lassen sich ebenfalls durch die oben erwähnten Untersuchungsmethoden sichtbar machen und lokalisieren. Vor allem der dänische Forscher Lou und Zametkin aus den USA haben zeigen können, dass Menschen mit einer ADHS-Problematik im Bereich der sog. Stammganglien, im Stirn- und auch Kleinhirn, eine geringere Hirnaktivität aufweisen als nichtbetroffene Personen. In diesen Regionen sind dafür vorwiegend die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin verantwortlich. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass diese Neurotransmitter bei der ADHS wahrscheinlich durch Transportenzyme im Synapsenspalt zu rasch abgebaut werden. So können sie weniger lange wirken und erklären damit die registrierte Unterfunktion dieser Regionen.

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Stark vereinfacht könnte man entsprechend bei der ADHS auch von einer «Stoffwechselstörung» im Bereich dieser Synapsen sprechen. Als Ursache dieser Fehlfunktion sind genetische, d.h. vererbte Faktoren, weitaus am wahrscheinlichsten.

Dr. med. Meinrad H. Ryffel

Nachdem bereits 1971 der amerikanische Kinderpsychiater Paul H. Wender diese „Neurotransmitter-Hypothese“ aufgestellt hatte, konnte 1989 Lou zeigen, dass sich mit Methylphenidat (= Wirkstoff von Ritalin) die Durchblutung kurzfristig in den Stammganglien und im Frontalhirn verbessert. Offenbar wird die Neurotransmitterfunktion aktiviert, d. h. stimuliert, indem durch Methylphenidat der zu rasche Abbau der Neurotransmitter verhindert wird. Entsprechend ihrer Funktion werden deshalb solche Medikamente auch als sogenannte Stimulanzien bezeichnet, d. h. sie aktivieren das Neurotransmittersystem auf ein normales Niveau.

Stark vereinfacht könnte man entsprechend bei der ADHS auch von einer „Stoffwechselstörung“ im Bereich dieser Synapsen sprechen. Als Ursache dieser Fehlfunktion sind genetische, das heisst vererbte Faktoren weitaus am wahrscheinlichsten. Viele Stammbäume betroffener ADHS-Familien zeigen eine signifikante Häufung von ADHS- Patienten über mehrere Generationen. Ebenso sind andere psychische Erkrankungen – vor allem Depressionen und Suchtprobleme - vermehrt anzutreffen, wobei offenbleibt, ob diese nun primär oder sekundär entstanden sind. Auch sog. Zwillingsstudien und Untersuchungen mit Adoptivkindern weisen auf die grosse Bedeutung der Vererbung hin.

Bei der ADHS im klinischen Sinn handelt es sich also wahrscheinlich, aufgrund vieler weltweit unabhängig voneinander durchgeführten Untersuchungen, um eine neurobiologisch erklärbare - häufig vererbte - andere Hirnfunktion mit (negativen) Auswirkungen im Bereich der zerebralen Informationsverarbeitung (vor allem eine Beeinträchtigung der sogenannten exekutiven Funktionen). Diese wahrscheinlich primäre Störung kann und wird durch äussere psychosoziale Umweltfaktoren, teilweise verstärkt.

Je länger ein ADHS-Symptom nicht als solches erkannt wird, umso grösser ist das Risiko für sekundäre Syndrome.

Dr. med. Meinrad H. Ryffel